Endlich wieder Mittwoch abend, acht Uhr. Singstunde. Der Chorleiter – nennen wir ihn Friedrich – wartet auf seine Sänger. Zehn Minuten vor Beginn stürmt als erste Roswitha herein. „Bin ich schon zu spät?“ Ihre Augen schweifen etwas gehetzt durch den Raum, bevor sie sich mit einem erleichterten Seufzer auf ihren Platz fallen lässt. Friedrich muss schmunzeln. Ist doch irgendwie immer wieder das selbe. Nach und nach füllen sich die Reihen, Friedrich beginnt mit den Lockerungs- und Einsingübungen. Eine viertel Stunde nach acht fällt hörbar die Tür ins Schloss und Jürgen schlurft in aller Seelenruhe auf seinen Platz. Nicht, ohne während dessen noch mit diesem Kameraden und jener Sängerfreundin ein freundlich-lautstarkes Wort gewechselt zu haben. Schließlich hat er endlich Feierabend und ist hier weder auf der Flucht, noch beim Kommis. „Oh, meine Pappenheimer, ein Käfig voller Individualisten“, denkt Friedrich.
Eine gewagte These? Betrachtet man das Wort, das die Aussage provokativ erscheinen lässt, ein mal genauer: den Käfig. Laut Definition ist ein Käfig „ein allseitig geschlossenes Behältnis, dessen Seiten mehr oder weniger perforiert sind“. Natürlich muss das „Behältnis“ in Bezug auf den Verein ein wenig abstrahiert, vielleicht „Raum“ genannt werden. Doch dann ist es gar nicht so unpassend. Ein Käfig schließt seinen Inhalt nicht hermetisch vor äußeren Einflüssen ab. „Das ist spannend“, denkt Friedrich. Perforierte Seiten, also durchlässig für äußere Einflüsse, aber dennoch allseitig geschlossen, geschützt. Muss man ja nicht als verschlossen verstehen, aber mit einer deutlichen Abgrenzung nach außen. Die einen sind drin, die anderen nicht. Interessant ist auch die Betrachtung eines physikalischen Phänomens: der Faradaysche Käfig. Er schützt diejenigen, die drin sind vor elektrischer Ladung von außen. Und, noch besser: Er lässt eine Entladung, die in seinem Inneren stattfindet, nicht hinaus. Da erkennt Friedrich seinen eigenen Verein wieder. Manchmal funkt es kräftig, doch diese Spannung wird nicht nach außen getragen. „Also soll mir der Käfig als Bild für unseren Verein diesmal recht und billig sein“, beschließt Friedrich.
Friedrichs lässt seinen Gedanken freien Lauf, während er ein altbekanntes Stück wiederholt. Wie war das mit den Individualisten? „Der Individualist trifft eigenständige Entscheidungen und bildet sich eine eigene Meinung.“ So ist es im Lexikon zu lesen. Die Eigenschaften des Individualisten seien zudem Zivilcourage aber auch Eigensinnigkeit und der Hang zur Selbstverwirklichung. Daraus entstünde – zumindest in manchen Teilbereichen – eine mangelnde Teamfähigkeit. In diesem Moment lacht Peter laut über einen Witz, den Luise ihm eben erzählt hat und Friedrich muss abbrechen und noch einmal neu beginnen. Fakt ist, dass es ohne Individualisten nicht diese Vielfalt von Zusammenschlüssen gäbe, wie sie in unserer deutschen Vereinslandschaft zu beobachten ist. Denn nur Individualisten suchen sich Gleichgesinnte, um ihre individuellen Interessen auszuführen. Dieses Sammelsurium an unterschiedlichen Leuten ist erstaunlich: Von der Krankenschwester über den Manager zum Praktikanten, vom Rentner über die Wissenschaftlerin zum Hausmann, einfach alles ist dabei in so einem Gesangverein. Und alle – Friedrich eingeschlossen – schaffen es jetzt, sich für den Rest der Singstunde auf den Gesang zu konzentrieren.
„Wenn ich schon beim Definieren bin, was ist eigentlich genau ein Gesangverein?“, fragt sich Friedrich, als er spät abends von der Wirtschaft nach Hause läuft. „Ein Gesangverein ist ein Verein zur Pflege des Gesangs mit der Aufgabe, diesen zu überliefern und weiter zu entwickeln“, weiß das Lexikon. Die meisten Gesangvereine – damals noch ordentlich als reine Männerveranstaltung durchgeführt – entstanden im 19. Jahrhundert. In der Epoche der Romantik begeisterte sich die Gesellschaft für den Liedvortrag und entdeckten den Gesangverein als neue Form der Geselligkeit. Nach den Weltkriegen sehnten sich die Menschen nach traditionellen Werten wie Familie und Heimat, die Gesangvereine erlebten eine Renaissance. „Damals waren die Vorstellungen klar“, seufzt Friedrich in sich hinein. „Wir wollten das traditionelle Liedgut überliefern und bewahren.“ Doch die nachfolgende Generation konnte sich nicht für Zelter und Silcher begeistern und die Vereine litten immer mehr an Überalterung. In der Not wurden die Sängerzirkel für Frauen geöffnet und der zweite Aspekt der Definition, die Weiterentwicklung des Liedguts, wurde immer mehr eingefordert. „So ist das in unserem Käfig voller Individualisten“, zieht Friedrich sein Fazit, während er den Pyjama überstreift. „Wir eigenständigen und couragierten Menschen widmen uns innerhalb unseres geschützten Raums der Pflege und Weiterentwicklung unseres Liedguts.“ So soll es sein. Schlaf gut, Friedrich.
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