Neulich war meine Nichte bei uns zu Besuch. Sie wächst in einer Welt auf, die – wertungsfrei gemeint – so ziemlich das Gegenteil von unserer ist. Ihre Eltern sind beide Pädagogen, die Familie lebt im Norden Deutschlands, mitten in einer großen Stadt. Nichts desto trotz oder gerade deswegen kommt sie unheimlich gerne zu uns aufs Land. Aber manches ist ihr bestimmt ein bisschen fremd. Doch mit der Toleranz, die vielen Kindern eigen ist, konnte sie uns auch bei folgender Gelegenheit so annehmen, wie wir sind:
Für die Schule mussten die Kinder aufschreiben, was sie in den Ferien alles gemacht haben. Also saß ich mit meiner Nichte am Tisch und wollte sie bei ihrem Aufsatz unterstützen. Die erste Frage an mich lautete: „Wie schreibt man <<Sevcan>>?“ Leider kenne ich mich in der Schreibweise türkischer Mädchennamen nicht recht aus. Deswegen konnte ich nicht sagen, wie sich die Freundin meiner Nichte korrekt schreibt. Lediglich leicht irritiert fuhren wir also in unserem Bericht über den Ausflug der Mädchen in ein norddeutsche Spaßbad fort. Die nächste Frage bezog sich dann auch gleich auf das Bad: „Wie schreibt man <<Delphina>>?“ Tja, schreibt man das jetzt nach neuer oder nach alter Rechtschreibung? Wieder musste ich mein Unwissen zugeben. Der Blick aus den blauen Augen meiner Nichte senkte sich tief in die meinen. Ich konnte richtig sehen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie nickte leicht, kräuselte zwei, drei Mal die Lippen, ihr Brustkorb hob uns senkte sich, als sie bei einem tiefen Atemzug akzeptierte, was unabänderlich schien. Mein Sohn, der bei uns am Tisch saß, konnte kaum erwarten, die fertige Geschichte zu hören und quengelte, dass ich ihm den Aufsatz vorlesen solle. Durch ein huldvolles Nicken genehmigte meine Nichte, dass ich das Werk an mich nahm und ich begann zu lesen. Schon nach wenigen Sätzen hellte sich der kritische Blick des Mädchens auf und als ich geendet hatte, rief sie ganz begeistert: „Aber lesen kannst du schon ganz gut!“
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